Resilienz: Wer seelischen Speck für Notzeiten anlegt, übersteht Krisen besser

 

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Sie sind oft lästig und anstrengend, und trotzdem müssen wir im Laufe unseres Lebens acht Entwicklungskrisen aushalten, um uns gut zu entwickeln. Je besser wir diese Krisen bewältigen, über desto mehr Resilienz verfügen wir. Mit jeder Lebenskrise wächst uns ein innerer Jahresring, ein Stück „seelischer Speck“, von dem wir in Notzeiten profitieren.

Jahresringe in Baumscheiben sind für mich ein Symbol für persönliches Wachstum: In schlechten Jahren bleiben sie dünn und zeigen Dürre, Mangel, Not an Nährstoffen an. In guten Jahren legt der Baum kräftig zu. Für Experten sind Jahresringe wie eine Baum-Biografie zu lesen.

Im Unterschied zu uns Menschen werten Bäume aber nicht. Ihre Jahresringe sind, wie sie sind. Sie müssen keinen bestimmten Umfang oder eine gewisse Stärke erreichen. Bäume wachsen, wie sie wollen.

Bei uns Menschen ist das leider ein bisschen anders. Zwar sind Jahresringe bei uns nicht sichtbar, doch inneres Wachstum stelle ich mir ähnlich vor: In guten Zeiten wächst „der seelische Speck für Notzeiten“, dann müssen wir mit weniger auskommen.

Wir überschätzen, was wir in einem Jahr bewegen

Bäume wachsen langsam, aber stetig. Jahresringe erinnern daran, gelassen zu bleiben. Wenn wir akzeptieren, dass es in unserem Leben ebenso wie in der Natur Zeiten der Fülle und des Mangels gibt, können wir besser hinnehmen, wenn wir kraftlos sind oder scheinbar nicht vorwärts kommen.

In Wirklichkeit kommen wir doch voran, nur eben zu langsam für unseren Geschmack. Gegenwind bläst uns kräftig ins Gesicht. Wir überschätzen, wie viel wir in einem Jahr erreichen oder bewegen können. Wir unterschätzen, wie weit wir in zehn Jahren kommen, wenn wir eine substanzielle Veränderung wünschen.

Meist wissen wir nicht einmal genau, wo wir gerade stehen. Vielleicht ist die Krise, die wir gerade durchleben, gar nicht „vom Himmel gefallen“. Möglicherweise hat sie etwas mitzuteilen und kündigt einen Wechsel an.

Um manche Krisen kommen wir nicht herum. Das Leben zwingt uns, zu wachsen. Je nachdem, wie wir diese Krisen bewältigen, können wir uns positiv oder negativ entwickeln.

Wir entscheiden, zu welchem Pol wir streben.

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Wir brauchen Lebenskrisen, um zu wachsen

Der US-Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat „acht Phasen der Persönlichkeitsentwicklung“ benannt. Jede ist mit einer speziellen zu bewältigenden Lebenskrise verbunden:

  1. Urvertrauen versus Misstrauen: Säuglinge lernen, ihrer Umwelt entweder zu vertrauen oder zu misstrauen. Wenn Babys in ihrem ersten Jahr die Erfahrung machen, dass ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden oder ihre Bezugspersonen unberechenbar sind, reagieren sie mit Angst, Unsicherheit, Misstrauen und Rückzug. Ihre Beziehungen zu anderen werden später von diesen Erfahrungen bestimmt.
  1. Autonomie versus Scham und Zweifel: Im Alter von zwei, drei Jahren entdecken Kinder ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten. Sie werden selbstständig und selbstbewusst, wenn sie diese ausleben dürfen. Wenn das Kind bestraft oder kritisiert wird, beginnt es, an sich selbst zu zweifeln. Wenn Eltern zuviel fordern, schämt es sich.
  1. Initiative versus Schuldgefühl: Werden Kinder älter, zeigen sie mehr Initiative und Aktivität. Sie beginnen, sich im Alter von etwa fünf Jahren von ihren Eltern stärker abzulösen. Mutter und Vater können sie darin bestärken oder durch Regeln, Vorschriften und Verbote bremsen. Das Kind fühlt sich schuldig und entwickelt ein geringes Selbstwertgefühl.
  1. Kompetenz versus Minderwertigkeitsgefühle: Zwischen sechs und elf Jahren beginnt das Kind, sich auszuprobieren. Wenn Eltern und Lehrer es bestärken, entwickelt es Kompetenz und Selbstvertrauen. Falls es als störend oder unfähig bezeichnet wird, hat es das Gefühl zu versagen. Es wird sich wenig zutrauen und passiv bleiben, um nicht kritisiert zu werden.
  1. Identitätsfindung versus Rollendiffusion: Jugendliche probieren verschiedene Rollen aus. Zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr suchen sie unterschiedliche intensive Erfahrungen, um festzustellen, wer sie sind. Sie sind mit instabilem Selbstbewusstsein auf der Suche nach der eigenen Identität und wechseln ihre Vorbilder und Rollen ständig.
  1. Intimität versus Isolation: Junge Erwachsene gehen den Schritt vom „Ich“ zum „Wir“. Sie suchen den Kontakt zu anderen, Intimität und Partnerschaft, Bindung ohne Selbstaufgabe. Falls diese Kontaktaufnahme scheitert, ziehen sie sich zurück und leben oft isoliert und ohne Nähe zu anderen.
  1. Schaffenskraft versus Stagnation: Zwischen 30 und 50 verlagert sich der Fokus der meisten Erwachsenen von der eigenen Familie hinaus zu den künftigen Generationen. Die Entwicklung der Gesellschaft wird wichtiger als persönliche Ziele. Menschen haben jetzt das Bedürfnis, Wissen und Erfahrung weiterzugeben. Falls andere darauf nicht reagieren, ziehen sie sich zurück und beschränken sich auf materiellen Besitz. Sie werden selbstbezogen, orientieren sich kaum an der Zukunft und werden von ihren Enttäuschungen dominiert.
  1. Ich-Integrität versus Verzweiflung: Mit etwa 60 Jahren beginnt für Erwachsene ein Lebensabschnitt, den viele als Abstieg empfinden. Mit dem Eintritt ins Rentenalter erleben viele den Verlust von sozialen Beziehungen und Anerkennung, von körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Die Vorbereitung auf den Tod mündet bei vielen in Verzweiflung, wenn sie ihr Leben als unbefriedigend erleben. Sind Menschen dagegen mit sich und ihrem Leben im Reinen, haben sie eine seelenvolle Ich-Identität. Sie empfinden sich als ganz und stimmig, wenn sie mit dem Erreichten und Erlebten vorwiegend zufrieden sind.

Diesen Kreislauf der Vollendung eines Lebens beschreibt der Dichter Rainer Maria Rilke sehr schön in einem Gedicht:

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang;

und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm

oder ein großer Gesang.“

Rainer Maria Rilke „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“. Aus: Stundenbuch / Das Buch vom Mönchischen Leben (1899)

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Je älter, desto dünnhäutiger und durchlässiger

Einige meiner Coaching-Klienten und ich selbst haben die Erfahrung gemacht, dass sich manche Jahresringe besonders tief in die eigene Geschichte einschreiben – etwa eine schwere Krankheit, unerfüllter Kinderwunsch, Scheidung, Krankheit und Tod der Eltern, Invalidität. Erfahrung und zunehmendes Lebensalter mache eben nicht unverwundbar, sondern sogar oft verletzlicher. Die so genannte Vulnerabilität steigt im Alter. Wir werden dünnhäutiger, empfindsamer und oft mitfühlender. Fast scheint es so, als werde der Mensch im Laufe seines Lebens durchlässiger für die Gefühle und Nöte seiner Mitmenschen.

Kennen Sie das auch? Ich bin neugierig auf Ihre Erfahrungen und freue mich, hier im Blog mit Ihnen zu diskutieren.

  • Welche dieser Entwicklungskrisen haben Sie besonders leicht gemeistert?
  • Welche besonderen Fähigkeiten oder Kenntnisse verdanken Sie diesen Entwicklungskrisen?
  • Stellen Sie sich vor, Ihr bester Freund steht jetzt vor dieser Krise: Was raten Sie ihm? Was soll er auf keinen Fall tun?

Petra-Alexandra Buhl

3 Gedanken zu „Resilienz: Wer seelischen Speck für Notzeiten anlegt, übersteht Krisen besser

  1. Ich gratuliere sehr herzlich. Ansprechende Grafik, gute Lesbarkeit. Selbst für Leserinnen, die an manchen Reiseführern in 6 Punkt gedruckt scheitern.

    Viel Erfolg damit
    Doris Burger

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