Mitten in der schwäbischen Provinz wird ein Zukunftsmodell getestet: Thyssen Krupp Elevator baut in Rottweil einen Testturm für Hochgeschwindigkeits-Aufzüge.
70% der Menschen in aller Welt werden künftig in sogenannten Mega-Cities leben. Die Verstädterung ist vor allem in Asien, Afrika und Südamerika in vollem Gang. Überall dort, wo die Bodenpreise sehr teuer sind, muss in die Höhe gebaut werden.
Schon jetzt schießen die Wolkenkratzer in den Himmel: Der Burj Khalifa in Dubai ist aktuell mit 828 Metern das höchste Gebäude der Welt. Weitere Wolkenkratzer in ähnlichen Dimensionen werden folgen. Je höher das Gebäude, umso länger dauert die Fahrt mit dem Aufzug. Das will Thyssen Krupp Elevator ändern. Auch in Zukunft wird es heißen: „time is money“.
Innovationen für Aufzüge brauchen einen Ort für Experimente. Daher hat der Konzern das 40-Millionen-Euro-Projekt Testturm ausgeschrieben. Die Stadt Rottweil hat die Chance ergriffen, damit überregional bekannt zu werden. Gebaut wird der Turm vom Unternehmen Züblin.
Was viele noch nicht wissen: Der Turmbau von Rottweil ist auch eines der ehrgeizigen Groß-Projekte rund um das Internet der Dinge („Internet of Things“). Der Testturm soll Daten liefern, um die Informationslücke zwischen realer und virtueller Welt zu minimieren, Zustandsinformationen für die Weiterverarbeitung im Netz bereitzustellen und die Hochgeschwindigkeits-Aufzüge weiter zu entwickeln.
Begehrte Daten für das Internet of Things sind beispielsweise:
- Nutzungsdaten
- Materialeigenschaften
- Umweltbedingungen
- sicherheitsrelevante Daten
- Früherkennung von Wartung oder Austausch von Komponenten
- Energieaufwand
Anschließend können digitale Services als Teil des Internets of Things die Parametrierung der Aufzüge verbessern, etwa durch:
- Standards für die Aufzugs-Komponenten und Dienste
- die Einführung einer sicheren Netzwerkanbindung für die Geräte
- Neue digitale Services, die einen zusätzlichen Nutzen schaffen
In Rottweil werden dafür künftig zwei Aufzugssysteme weiter- oder neu entwickelt: Das Modell „Twin“, in dem sich zwei Aufzugskabinen einen Schacht teilen, gibt es zwar schon. In Rottweil wird es aber weiter entwickelt. Das Aufzugssystem MULTI ist momentan noch in der Entwicklung und wird zukünftig in Rottweil getestet. Es zeichnet sich durch seinen Linearmotorantrieb aus, der bereits im Transrapid zum Einsatz kam. Der Vorteil: Bei Bedarf können zahlreiche Aufzugskabinen in einem Schacht fahren und das auch seitwärts. Geschwindigkeiten bis 18m/s werden im Turm zukünftig allerdings von einer neuen Generation konventioneller Aufzüge erreicht.
Dieser Film zeigt, wie das Aufzugs-System Multi funktioniert:
Im Rahmen eines Events der women in business Akademie in Rottweil http://www.wib-events.de durfte ich am 24. Juni 2015 die Baustelle des Turmes besichtigen. Da war er bereits auf die Höhe von 166 Metern angewachsen.
Akademie-Chefin Ulrike Lehmann führt in ihrer Freizeit durch die historische Altstadt von Rottweil und neuerdings auch auf die Turm-Baustelle. Mit ihrem ansteckenden Enthusiasmus ist sie genau die Richtige, um für dieses Projekt zu werben: „Nein, es hätte nicht ein kleinerer Turm genügt. Er muss genau so sein und er muss von weitem gesehen werden. Er steht hier mitten unter uns und symbolisiert den Mega-Trend Urbanisierung.“ Ulrike Lehmann begeistert sich für das historische Rottweil und seine alten Türme. Sie befasst sich aber auch mit Innovation und ist deshalb eine glühende Verfechterin des „Tower of Light“ genannten Bauwerkes: „Ich hoffe, dass er die Herzen der Rottweiler und Rottweilerinnen für weitere Veränderungen öffnet.“
Die Chancen dafür stehen gut: Völlig überrascht wurde die Stadt vom großen Interesse der Menschen. „Schon zur Grundsteinlegung kamen wider Erwarten über 400 Leute zur Baustelle“, erzählt Ulrike Lehmann. In Windeseile wurde eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut. In kurzer Zeit sahen sich über 1 000 Menschen „offiziell“ – also angemeldet über die Touristinformation – die Baustelle an. Die Zahl derer, die auf eigene Faust den Baufortschritt betrachten, liegt deutlich höher: „Manche kommen sogar jeden Abend. Die meisten Zuschauer gibt es natürlich, wenn der Kran wieder ein Stück erhöht wird“, sagt Ulrike Lehmann.
12 Schächte wird der Turm haben. Neun davon werden für die geplanten Innovationen gebraucht. Ein Schacht dient als Fallschacht, in dem die Sicherheit der Kabinen getestet wird, ein anderer als Evakuierungsschacht – es wird der erste in Deutschland sein. Hier wird die Sicherheit der Hochgeschwindigkeits-Aufzüge getestet.
Der 12. Schacht soll als Außenaufzug den Panorama-Blick über Land ermöglichen – bis hinüber in die Schweiz, nach Stuttgart und über die Schwäbische Alb. 2017 sollen Besucher bis ganz nach oben fahren dürfen – 246 Meter hoch wird der Turm. Von Freitagabend bis Sonntagabend – wenn die Ingenieure den Turm nicht für ihre Zwecke brauchen – soll er offen stehen.
Der Turm will Rekorde schlagen: In 232 Metern Höhe wird die bundesweit höchste Aussichts-Plattform entstehen. Zum Vergleich: Der Fernsehturm am Berliner Alexanderplatz empfängt seine Besucher auf 203 Metern Höhe. Auf dem Stuttgarter Fernsehturm befindet sich die Aussichtsplattform auf 150 Metern Höhe.
Am Testturm wird seit Januar 2015 gebaut. Täglich wächst er um 3,60 Meter in die Höhe. In drei Schichten arbeiten 25 Mitarbeiter daran, die 25 bis 40 Zentimeter dicke Turm-Hülle zu vervollständigen. Mitte August soll der Rohbau fertig und die endgültige Höhe erreicht sein. Update 4. Oktober 2015: Der Turm hat inzwischen die Höhe von 244,10 Metern erreicht. Im Herbst folgt jetzt der Einbau der Gebäude- und Aufzugstechnik. Ein Blick auf die Webcam lohnt sich.
Am Ende wird der Turm mit einem silbrig glänzenden Glasfasergewebe umhüllt, das ihm einen futuristischen Touch geben wird. Interessanterweise hilft genau dieses Gewebe, das Bauwerk resilient zu machen.
Auf Grund von Druck und Unterdruck bewegt sich das Gebäude zur Seite. Die Amplitude soll insgesamt bis zu zwei Meter ausmachen. Das Glasfasergewebe hilft, den Turm in der Schwingung zu halten und garantiert zugleich seine Standfestigkeit.
Mit verschiedenen Bauweisen von Hochhäusern wird in Japan experimentiert. Das Land ist die Industrienation mit den meisten Erdbeben und verzeichnet durchschnittlich über 70 Erdbeben pro Monat. Viele Hochhäuser sind dort entstanden, weil Land knapp ist. Allerdings waren die Hochhäuser der ersten Generation sehr starr und unflexibel: Viele Tote und verheerende Schäden waren die Folge.
Die Ingenieure begannen, die Gebäude auf Erschütterungen von mehr als 4 auf der Richterskala auszurichten. Seither reagieren japanische Hochhäuser flexibler: Sie nehmen die Schwingungen einerseits auf und bewegen sich quasi mit, andererseits dämpfen sie die Bewegung auch und verhindern so, dass das Gebäude in sich zusammenfällt. Häuser mit einem im Inneren schwingenden Kern können stärkere Erdbeben aushalten und werden heute in jeder erdbebengefährdeten Region gebaut.
Diese Erfahrungen sind auch in den Bau des Testturms mit eingeflossen. Ab Januar 2016 soll das Glasfasergewebe in 20-Meter-Paketen angebracht werden. Dazu wird es von oben nach unten gelassen und dann in der Fassade verankert. Das ambitionierte Projekt wurde von den Architekten Helmut Jahn und Werner Sobek entworfen, beide haben sich für das Glasfasergewebe ausgesprochen. Gemeinsam haben sie übrigens u.a. das Sony-Center am Potsdamer Platz in Berlin und den Flughafen Bangkok geplant. Rottweil bekommt also erstklassige Architektur.
Hier geht es zur Website des Aufzugsturms und zur LiveCam auf die Baustelle:
http://www.aufzugsturm-rottweil.de
Wer mehr über Thyssen Krupp und seine Aufzug-Sparte erfahren will, findet hier weitere Informationen:
http://www.thyssenkrupp-elevator.com
Petra-Alexandra Buhl