Hier lesen Sie eine kleine Anleitung dazu, wie man Nobelpreisträger wird, was das mit Fußball zu tun hat und warum Scheitern wichtig ist.
„Es ist für die jungen Wissenschaftler wie eine Woche Trainingslager mit den größten Fußballstars aller Zeiten“ – so beschreibt Vincenzo Hiemer, Mitarbeiter der Lindau Nobel Laureate Meetings, die jährliche Tagung der Nobelpreisträger in Lindau. 65 Nobelpreisträger und 650 Nachwuchs-Wissenschaftler aus aller Welt haben 2015 daran teilgenommen.
Polohemd tragen und auf dem Rasen sitzen – fast möchte man die sportliche Metapher vom Trainingslager glauben. Was jedoch nicht stimmt, ist die Beschreibung „Stars“ für die Nobelpreisträger.
Verglichen mit den Transfer-Summen im Profi-Fußball ist der mit acht Millionen schwedischen Kronen (etwa 878 000 Euro) dotierte Nobelpreis sehr bescheiden. Das gilt auch für die Preisträger. Sie sind in aller Regel alt, lebens- und welterfahren, neugierig und heiter. Bei den Nobelpreisträgern
- stehen wissenschaftliche Leistung und Arbeit im Vordergrund, nicht die Person
- Begabung, Intelligenz, Kreativität, Genialität zeichnen sie aus
- Sie haben keine Inselbegabung, sondern vielfältige Interessen
Der Nobelpreis wird für „den größten Nutzen für die Menschheit“ vergeben. Damit sich das Vergabekomitee auch sicher sein kann, dass dem so ist, gehen meist Jahre oder Jahrzehnte ins Land, ehe eine Leistung tatsächlich als revolutionär und neu bezeichnet werden kann.
[Tweet “”Der Nobelpreis belohnt einen Erfolg, doch diesen ermöglicht nicht selten eine Chronologie des Scheiterns”, Peter Badge/ Sandra Zarrinbal”]
Wie hält man es aus, jahrzehntelang fast unbeirrbar in einem Labor zu sitzen und Details zu erforschen? Möglicherweise jahrelang komplett auf einem Holzweg unterwegs zu sein, ohne es zu wissen?
Besonders bemerkenswert finde ich, dass die Nobelpreisträger vielfältige Interessen und Leidenschaften wie Musik, Kunst, Sport und Literatur haben. Sie richten in der Freizeit den Blick auf andere Dinge. Aus der Forschung weiß man, dass genau dies – sich mit unterschiedlichen Herausforderungen und neuen Reizen zu konfrontieren und zu entspannen – wichtige Bedingungen für Kreativität, Innovation und Problemlösung sind.
Wie humorvoll und kreativ die Nobelpreisträger bei ihrer Arbeit sein können, zeigen diese Zeichnungen. Hier wurden die Laureaten aufgefordert, mit dem Stift zu erklären, wofür sie den begehrten Preis erhalten haben:
http://www.mediatheque.lindau-nobel.org/exhibitons/33551/sketches-of-science
Nobelpreisträger sind bewegliche Geister, die den Austausch mit anderen Menschen schätzen. Sie leben nicht in der Isolation, wie uns das Klischee vom „irren Professor“ glauben machen will. Nach Allem, was ich auf der Nobelpreisträgerfahrt erlebt habe, sind sie auch frei von Arroganz, Starallüren und Dünkel.
Sie heben sich wohltuend ab von Stars und Sternchen aller Art, die viel Lärm und viel Wind machen, Glanz und Aufmerksamkeit für sehr viel geringere Leistungen als „den größten Nutzen für die Menschheit“ beanspruchen.
Zwei Nobelpreisträger möchte ich hier aus der Gruppe der 65 Laureaten, die 2015 in Lindau waren, herausheben:
Prof. Dr. Peter C. Doherty, der hier so lässig auf dem Rasen sitzt (Bildmitte, Vordergrund) und sich mit jungen Wissenschaftlern unterhält, ist mit seinen 74 Jahren äußerst aktiv, politisch und gesellschaftlich engagiert sowie bestens informiert. Unter @ProfPCDoherty twittert er täglich lesenswert, amüsant und weise.
Er gibt Nobelpreis-hungrigen jungen Forschern in seinem Buch „Beginner´s Guide to Winning the Nobel Prize. Advice for Young Scientists“ folgende Tipps, wie sie den begehrten Preis bekommen könnten:
- ein Problem von der Dimension „dickes Ding lösen
- sich dazu mit den richtigen Mitstreitern umgeben
- keine Angst vor dem Scheitern haben und dranbleiben, dranbleiben, dranbleiben
- nie übersehen, was direkt vor der eigenen Nase liegt
- sich strikt auf ein Thema fokussieren
- immer schön die Wahrheit sagen
- besser noch: sie klar und verständlich schreiben
- unbedingt gesund bleiben und alt, besser sehr alt werden
- Spaß haben und jederzeit ausstrahlen:
Ich bin ein Gewinner!
(zitiert nach Peter Badge/ Sandra Zarrinbal: „Geniale Begegnungen – Weltreise zu den Nobelpreisträgern“, daab Media GmbH Köln 2015
Der 1940 in Australien geborene Immunologe Peter C. Doherty scheint das alles richtig gemacht zu haben. In seinem Lebenslauf fällt auf, dass er sich außerdem schon früh breite Kenntnisse in unterschiedlichsten Disziplinen angeeignet hat. Zudem hat er in jahrzehntelangen Forschungen stabile und langjährige Zusammenarbeit bevorzugt, um Spitzen-Leistungen hervorzubringen:
Biographie https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Doherty
Die Lindauer Vorlesung 2015 von Prof. Doherty http://www.mediatheque.lindau-nobel.org/videos/34719/peter-doherty-killer-defence/laureate-doherty
Auch auf den Physiker Prof. Dr. William Daniel Phillips trifft Dohertys launige Beschreibung zu. Schon früh zeigte er eine ausgeprägte wissenschaftliche Begabung und experimentierte bereits als kleiner Junge mit Mikroskopen und Chemie-Kästen. Neben dieser frühen Förderung seiner Begabungen spielen langjährige Beziehungen für seinen wissenschaftlichen Erfolg eine große Rolle:
Biographie https://de.wikipedia.org/wiki/William_Daniel_Phillips
Prof. Phillips in seiner Lindauer Vorlesung 2015 http://www.mediatheque.lindau-nobel.org/videos/34693/william-phillips-atomtronics-atomic-analogs/laureate-phillips
Beide Laureaten haben übrigens die „Mainau Declaration 2015 gegen den Klimawandel“ mitunterzeichnet und sind hier kurz nach der Verkündung auf der Bühne zu sehen: Peter C. Doherty ganz links, William D. Phillips in der Bildmitte.
http://www.lindau-nobel.org/the-mainau-declaration-2015-on-climate-change/
Es kommt selten vor, dass sich die Nobelpreisträger der Disziplinen Physik, Chemie und Medizin politisch äußern. In diesem Jahr haben sie es doch getan – aus Sorge um die Folgen des Klimawandels. „Die Erklärung ist im Text stark, aber nicht konfrontativ. Sie ist hier und da bewusst vorsichtig formuliert, denn sie will keine Fronten verhärten. Sie soll jedem ermöglichen, zuzustimmen und die Deklaration anzunehmen“, sagte Christian Schuhmacher, Leiter der Kommunikationsabteilung der Lindauer Tagung, auf der Mainau kurz nach dem die Erklärung veröffentlicht wurde.
Insbesondere die jungen Forscher aus Ländern, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, begrüßten die Erklärung sehr und diskutierten in den sozialen Medien ihre Hoffnung, dass sie in den Köpfen ihrer Regierungen etwas bewirken möge. Viel kritischer wurde die Deklaration von jungen Forschern aus den Industrienationen bewertet. Dennoch gab es für die Erklärung standing ovations auf der Insel Mainau.
Christian Schuhmacher hofft, dass diese breite Debatte auch nach der Tagung fortgeführt wird. „Uns hat es überrascht, dass plötzlich diese Erklärung aufgesetzt wurde, damit haben wir überhaupt nicht gerechnet. Wenn diese sehr bescheidenen Menschen, die sonst wenig politisch sind, plötzlich doch politisch werden, muss man das sehr ernst nehmen“, sagt er.
Hier finden Sie einen Hintergrund-Text zur „Mainauer Erklärung zum Klimawandel“ http://www.lindau-nobel.org/the-mainau-declaration-2015-on-climate-change/
Obwohl die Nobelpreisträger viel Respekt, Ehrfurcht und Wertschätzung bekommen, sind sie zugleich nahbar und ansprechbar für die 650 Jung-Wissenschaftler, die in der Tagungs-Woche um sie herum kreisen und auf ein Gespräch hoffen.
Wer darf den Nobelpreisträgern in der Lindau-Woche so nah kommen?
Die Frauen und Männer dürfen höchstens 35 Jahre alt sein. Sie müssen Grundlagenforschung betreiben und dürfen nicht in der Industrie tätig sein, Lehrerfahrung und Publikationen vorweisen. Vor allem aber brauchen sie Empfehlungen und Referenzen von einflussreichen Fürsprechern, die ihre Qualitäten dem Kuratorium nahe legen.
In einem zweistufigen Verfahren wählt das Kuratorium aus. Es besteht aus Angehörigen von wissenschaftlichen Instituten, Stiftungen und Forschungseinrichtungen. Wer in Lindau anreist, ist in jedem Fall erprobt im Aushalten wissenschaftlicher Frustration. „Grundlagenforschung bringt erst einmal nichts, was einen unmittelbar weiter bringt, das erkennt man erst viel später“, schildert das eine der jungen Wissenschaftlerinnen an Bord der MS Sonnenkönigin.
Die Jung-Wissenschaftler haben also Motivation und Durchhaltevermögen nötig. Beides werden sie vermutlich aus Lindau mitnehmen. Die Nobelpreisträger appellieren in ihren Vorlesungen und in den persönlichen Gesprächen an beides: „2015 zog sich als roter Faden durch die Tagung, die jungen Wissenschaftler möchten furchtlos und überzeugt von ihren eigenen Ideen sein – auch wenn die Welt dagegen spricht“, erzählt Vincenzo Hiemer.
Fast jeder Nobelpreisträger wurde am Anfang ausgelacht – ganz gleich, ob er sich für Frieden und Aussöhnung engagierte, kritische Romane mit politischen Botschaften schrieb oder mit seinen naturwissenschaftlichen Forschungen bisherige Weltbilder und Überzeugungen aus den Angeln hob.
Sie machten unerschrocken weiter – und das ist wohl genau das, was sie vom „Normal-Menschen“ unterscheidet. Auch Nobelpreisträger-Leben sind voller Schicksalsschläge, Schwierigkeiten und Hürden. Sie folgen jedoch beherzt ihrem selbstgewählten Pfad.
Erstaunlicherweise gibt es bislang kaum statistische Daten dazu, ob die Lindauer Tagung so etwas wie eine Talentschmiede für Jung-Wissenschaftler ist. Sicher scheint, dass die meisten von ihnen eine herausragende wissenschaftliche Karriere machen. „Wir wünschen uns, dass es nicht nur bei einem einmaligen Erlebnis bleibt, sondern dass hier Netzwerke für die Zukunft entstehen“, sagt Christian Schuhmacher.
Viele tausend Menschen haben bisher an den Lindauer Nobelpreisträger-Tagungen teilgenommen. Den Nobelpreis hat bislang aber nur einer von ihnen bekommen: Bert Sakmann, der 1991 den Nobelpreis für Medizin erhielt, war als Schüler bei einer Lindauer Nobelpreisträger-Tagung dabei. Sakmann lebte damals in Lindau. Allerdings weiß man nicht einmal, in welchem Jahr das gewesen ist. Erstaunlicherweise hat sich laut Vincenzo Hiemer bis heute kein Psychologe oder Verhaltensforscher die Mühe gemacht, die Nachwuchs-Wissenschaftler und deren Lebenswege nach Lindau zu erforschen. Möglicherweise ist dafür die Datenlage zu schlecht: Die 65-jährige Geschichte der Tagung ist vergleichsweise wenig belegt. Das Lindauer Komitee versucht nun, zu rekonstruieren, wer wann in Lindau war und will erforschen, wie es weiterging. Möglicherweise wird es dann doch konkrete, statistisch belegbare „Erfolgsfaktoren von Nobelpreisträgern“ geben.
Aber wollen wir das?
Braucht Genie nicht auch Geheimnis?
Ein herzliches Dankeschön geht an das Referat Landesmarketing im Staatsministerium Baden-Württemberg – insbesondere an Herrn Andreas Schüle und Frau Dr. Margot Goeller – für die freundliche Einladung zur Nobelpreisträger-Fahrt 2015. Kompetent, gut gelaunt und freundlich unterstützten sie und ihre Mitarbeiter meine Recherchen, vermittelten Gesprächspartner und beschafften Material. Die Fotos der beiden Nobelpreisträger Doherty und Phillips und der Jung-Wissenschaftler stellte das Referat Landesmarketing freundlicherweise zur Verfügung – sie sind besser als meine 😉
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Buchtipp:
Der Berliner Fotograf Peter Badge porträtiert seit Jahren die Nobelpreisträger. In dem sehr lesenswerten Band „NOBELS“ finden sich 300 ausgewählte Porträtfotos von Preisträgern sowie biografische Texte.
Die Geschichten hinter den Reisen zu den einzelnen Nobelpreisträgern erzählen Peter Badge/ Sandra Zarrinbal in dem gerade erschienen Buch „Geniale Begegnungen – Weltreise zu den Nobelpreisträgern“, daab Media GmbH Köln 2015. So uneitel, bescheiden und allürenfrei wie die Nobelpreisträger scheint auch ihr Fotograf Peter Badge zu sein. Zumindest lesen sich die Erzählungen über seine Erlebnisse mit den Nobelpreisträgern so.
Das Buch hat ein durchdachtes und stimmiges Konzept. Gegliedert ist es in die Hauptabschnitte „Reise in die Vergangenheit, Urlaubsreisen, Die Elvis-Nobel-Route, Lange Wege, Von Dili über Havanna ins Weiße Haus, Grenzüberschreitungen, Ziele und See You! Wir sehn uns.“
Jederzeit stehen das Thema Nobelpreisträger und Badges Reflektionen über sie und unser Verhältnis zur Wissenschaft im Vordergrund. Deutlich wird, wie sehr das „Nobelpreisträger-Projekt“ Badge selbst und sein Leben verändert hat. Während er früher Musiker und Models fotografierte, sind es heute häufig „alte Männer“. Durch die intensive Selbstreflexion Badges hebt sich dieses Buch von anderen biografischen Fotografen-Büchern wohltuend ab. Es ist in einer außergewöhnlich sorgfältigen Sprache verfasst, außerdem sehr gut lektoriert, unterhaltsam, humorvoll und mit vielen lebendigen Detailfotos angereichert. Bemerkenswerte Lektüre muss nicht immer „schwer“ sein.
Hier gibt es weitere Informationen zum Buch und eine Leseprobe:
http://www.genialebegegnungen.de
Dieses kleine Interview mit Peter Badge gibt einen Eindruck von seiner Persönlichkeit:
http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/das/DAS-mit-Peter-Badge,dasx5806.html
Update 10. August 2015:
Hier finden Sie eine weitere Buch-Rezension zu “Geniale Begegnungen”:
Die daab Media GmbH stellte mir ein kostenloses Rezensionsexemplar von “Geniale Begegnungen” zur Verfügung.
Petra-Alexandra Buhl