The Future of Learning: Die Kinder brechen zu einem Ort auf, den wir uns nicht einmal vorstellen können

Die Lehrer verschwinden und an ihre Stelle tritt das selbstorganisierte Lernen. Die Angst der Eltern vor dieser Veränderung ist unbegründet: Ihre Kinder erschaffen neues Wissen für eine Zukunft, die wir uns heute gar nicht vorstellen können. Leben und Lernen an der Grenze zum Chaos müssen wir aushalten.

Professor Sugata Mitra, Professur für Educational Technology an der Universität Newcastle, UK, hat wie jedes Jahr alle interessanten Artikel über Bildung in ein „wordle“ eingespeist. Zu seiner großen Überraschung kommt 2015 zum ersten Mal das Wort Lehrer gar nicht mehr vor.

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Lehrer werden eher Prozessbegleiter und müssen diese sieben Entwicklungen für die Zukunft des Lernens moderieren:

  • Obsoleszenz – Überalterung, Wertverlust
  • Dematerialisierung
  • Das Loch in der Wand
  • Die „Granny Cloud“
  • Selbstorganisierte Lernumwelt
  • Die Schule in der Cloud
  • Lernen an der Grenze zum Chaos

Obsoleszenz

Lernen muss sich verändern, wir stehen vor tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen. Vom 16. bis zum 20. Jahrhundert seien Gesellschaften in Imperien organisiert gewesen. „Erst jetzt experimentieren wir mit anderen Gesellschaftsordnungen, bis jetzt aber noch nicht sehr erfolgreich“, so Mitra.

5 000 Jahre lang hatten wir soziale Systeme und Regierungen ohne Computer, Flugzeuge, Telefone usw. Dafür brauchten wir

Menschen

  • die sich in nichts von anderen unterschieden
  • Befehle ausführten, sobald sie ausgesprochen wurden
  • Lesen und Schreiben, Handschriften entziffern konnten
  • Anweisungen befolgten

Diese Menschen durften nicht kreativ sein. Es war den Angestellten sogar strikt verboten, kreativ zu werden. Niemand brauchte einen kreativen Fließband-Arbeiter.

In der Verwaltung wurde gedacht, in der Fabrikhalle gemacht – vorbei!

Dematerialisierung

Früher kannte man das nur aus dem Märchen: Gegenstände oder Menschen verschwanden plötzlich. Inzwischen haben wir das im realen Leben erlebt: Aufnahmegeräte, Füllfederhalter, Rechenschieber, Plattenspieler, Kompaktkameras, Landkarten und vieles mehr sind verschwunden – in unsere Smartphones. Sie sind nur noch eine Aneinanderreihung von Nullen und Einsen, haben jedoch keine materielle Erscheinungsform mehr.

Nicht nur Gegenstände, ganze Konzepte werden verschwinden, zum Beispiel das Auto fahren. Jahrtausende waren die Menschen in Kutschen unterschiedlicher Form unterwegs, bis die Erfindung der Motoren den Transport für immer verändert hat.

„Die Kutscher sind verschwunden, die Passagiere sind selbst Fahrer geworden“, sagt Sugata Mitra. Die Passagiere haben alle möglichen Innovationen gemacht, aber eines ist nicht passiert: Die Kutscher sind nicht zurückgekommen. Mit den selbstfahrenden Autos wird es weitere Innovationen geben. „Aber nicht die Passagiere werden verschwinden, sondern das Konzept Auto fahren“, sagt Sugata Mitra.

Denken Sie nur, Sie müssten ihren Enkel einmal beschreiben, was genau zu tun war, um ein Auto in Gang zu setzen und eine Reise von 500 Kilometern anzutreten. „Ihre Enkel werden sie für verrückt erklären, wenn Sie ihnen erklären, welcher Schalter wann und wofür zu bedienen war.“

Das Loch in der Wand – The Hole in The Wall

IMG_2293Herkömmliche Schulen und konventionell Lehrende werden verschwinden. 1999 startete Sugata Mitra für den indischen Software-Konzern National Institute of Information Technonolgy (NIIT) das Experiment „Hole in the Wall“. Es sollte überprüfen, wie Kinder lernen, wenn sie weder angeleitet noch überwacht werden. Zudem wollte Mitra erforschen, ob sich der Lerneifer und die Art zu Lernen bei Kindern nach Herkunft unterscheidet.

Hinter dem „Hole in The Wall“ verbargen sich Computer mit Internetzugang, die in einem Slum in Neu-Delhi in einer Mauer installiert wurden – auf Augenhöhe von Kindern. Eine Videokamera dokumentierte, was passierte. Das Verhalten der Kinder überraschte die Wissenschaftler:

  • Zuerst verstanden die Kinder Tastatur und Maus nur als Spielzeug.
  • Als sie grundlegende Funktionen verstanden hatten, wurde die Technik Mittel zum Zweck.
  • Die Kinder nutzten den Computer, um ihren Wissensdurst zu stillen und sich auf eigene Faust zu bilden.
  • Sie wählten persönliche Interessengebiete und waren von Neugier motiviert.
  • Selbstständig und in gegenseitigem Austausch lernten sie.
  • Ohne jedes Eingreifen von Eltern oder Lehrer machten sie Fortschritte.
  • In selbstorganisierten Gruppen wurde Wissen plötzlich zu einem Wert.
  • Die Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht hatte in diesem Umfeld keine Bedeutung.

Noch heute ist Sugata Mitra davon begeistert: „Sie fingen damit an, ohne irgendetwas über das Internet zu wissen. Sie wussten nicht, wie man eine Suchmaschine bedient, einen Download macht usw. Sie erschlossen sich das intuitiv.“

Er habe nicht geglaubt, dass es funktioniert, wenn Kinder in einer Gruppe ohne Anleitung lernen. Das Gegenteil war der Fall: Nach vier bis fünf Monaten hatten die Kinder Englisch gelernt. „Sie sprachen sogar über die Harvard Business Review, Zwölfjährige, stellen Sie sich das vor – unfassbar!“

2001 wurde die Hole-in-the-Wall Education Ltd. (HiWEL) gegründet, Teilhaber sind NIIT und die Weltbankgesellschaft International Finance Cooperation (IFC). HiWEL ermöglicht Kindern Bildung durch Lernstationen an öffentlichen Plätzen. Inzwischen gibt es in über 150 Dörfern oder in städtischen Slums Lernstationen – vor allem in Indien, Kambodscha, Mosambik, Sambia, Uganda, Botswana, Nigeria und Ruanda.

Wer den Film „Slumdog Millionaire“ gesehen hat: Er basiert auf dem Roman des indischen Schriftstellers Vikas Swarup, der nach eigener Aussage an einer Lernstation zu seinem Roman „Rupien! Rupien!“ inspiriert wurde. Das Buch ist Vorlage für „Slumdog Millionaire“.

The Granny Cloud

Mit der so genannten Großmutter-Methode machte Sugata Mitra Menschen, die eine Stunde pro Woche erübrigen können, zu Lehrern – mit der Auflage, die Kinder nicht direkt zu belehren. „Die Präsenz eines freundlichen Mentors kann selbstorganisiertes Lernen enorm befördern. Nehmen Sie Ihren besten Mathe-Lehrer, stellen Sie Alles für die Session zur Verfügung und sagen Sie ihm: Du wirst heute über Stilleben mit Wasserfarben referieren.“

Selbstorganisiertes Lernen

Beispielsweise könne man statt üblichen Unterrichts in Zahngesundheit Kinder fragen: „Ihr kommt ohne Zähne auf die Welt. Dann bekommt ihr Milchzähne und die fallen aus. Danach wachsen die Zähne nach und wenn ihr alt seid, fallen diese zwar wieder aus, diesmal wachsen sie aber nicht nach – warum?“

Dazu braucht man

  • ein paar Computer und bequeme Möbel
  • gläserne Wände
  • 20 Kinder
  • gute Fragen
  • ein offener Lernraum mit einer begrenzten Zahl an Ressourcen

Den gängigen Curricula und Prüfungsordnungen widerspricht das extrem. Aber wenn Menschen für Kooperation und Teamarbeit ausgebildet werden sollen, sind Prüfungen an Einzeltischen dafür wenig förderlich. Auch Aufseher, die gegenseitigen Austausch verbieten, sind dann nicht sinnvoll. Überdies sei es weltfremd, Smartphones für den Prüfungstag aus den Klassenzimmern zu verbannen, die sonst zum täglichen Leben der Kinder gehören. „Wir präparieren Kinder jetzt noch für ein System, das es nicht mehr gibt“, so Sugata Mitra.

Lernen an der Grenze zum Chaos

Wichtiger sei, Kindern beizubringen, wie sie recherchieren und Lernstoff einordnen. Auch die Fragen müssten sich ändern. Es sei nicht entscheidend die Frage zu stellen: „Wie hoch ist der Eiffel-Turm?“ sondern „Warum wurde der Eiffel-Turm gebaut?“

„Kinder entwickeln eine spontane, natürliche Ordnung. Dann dauert es nicht zwei Wochen, bis sie etwas gelernt haben, sondern nur drei Tage. Es ist wichtig, die Kinder mit ihren technischen Möglichkeiten und der Cloud alleine zu lassen. Sie werden irgendwo hingehen, an einen Ort, den sich keiner von uns vorstellen kann. Aber sie werden die Zukunft erleuchten.“

***

Das sind meine Take aways aus seinem Vortrag auf der CUE2015, Tagung der Non-Profit Community Dedicated for Inspiring Innovative Learners, im März 2015 in Palm Springs, CA, USA. Hier ist der Vortrag im Ganzen zu sehen:

https://www.youtube.com/watch?v=y-e9WRMWcdI

Petra-Alexandra Buhl

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