Männer wie Guido Leutenegger trifft man nicht auf einem Startup-Event. Dabei hat er offenbar Alles richtig gemacht, indem er gängige Business-Ratschläge missachtet hat.
Der pragmatische Schweizer hat 1990 das Unternehmen Natur konkret gegründet und beliefert inzwischen rund 7 000 Kunden. Bekannt geworden ist er mit der „Aktie Lotti“. Bei Guido Leutenegger können Sie Anteile an Kühen erwerben und werden dafür mit Fleisch- und Wurstwaren versorgt. Außerdem können Sie per GPS verfolgen, wo genau auf der Tessiner Alm Ihre Kuh gerade weidet.
Aber der Reihe nach. Hier lesen Sie sieben starke Prinzipien, mit denen Guido Leutenegger erfolgreich wurde.
Prinzip 1: Langsam wachsen
„Ich habe mich nicht mit Businessplänen, Nachhaltigkeit, Geschäftsmodellen oder Szenarien mit Stakeholdern beschäftigt. Ich wollte etwas Konkretes machen und ich wollte es in der Natur tun“, sagt Guido Leutenegger. 1990 hat er das Unternehmen Natur konkret mit dem Schwerpunkt Naturgartenbau gegründet. Bald kaufte er die ersten drei Hochlandrinder für den Naturschutz.
„Ich hatte dann die Kühe und die geben Fleisch – da musste ich mir etwas einfallen lassen.“ Schon bald waren es 150 Kühe und Guido Leutenegger wollte den Betrieb erweitern. Ursprünglich war er Lehrer und kein Landwirt, daher war es schwer, an Geld zu kommen. „Die Banken in der Schweiz vergeben Kredite nur an Leute, die Land besitzen. Ich hatte aber nur Pacht-Land, die Büro-Räume waren auch gemietet. Nur die Kühe haben mir gehört.“
Steakholder statt Stakeholder
Sein Ansatz war deshalb, die Endverbraucher an den Kühen zu beteiligen: „Steakholder statt Stakeholder“, sagt Leutenegger und lacht. Das habe die privaten Geldgeber überzeugt. „Die Aktie Lotti ist eine Aktie, die du streicheln und berühren kannst – keine Einlage in einen Fonds oder in ein Derivat, wo du nicht einmal verstehst, worum es geht.“ Sicher hat auch seine Erfahrung und Vernetzung überzeugt: Von 1980 bis 1990 war Guido Leutenegger Vorsitzender des Naturschutzbundes im Schweizer Kanton Thurgau.
Prinzip 2: Die eigenen Ideen wahrnehmen und umsetzen
„Vieles hat sich von selbst entwickelt. Wer nicht auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen ist, über den Preis attraktiv und billig zu sein, hat einen anderen Spielraum in der Tierhaltung. Ich habe überlegt, was kann ich dem Kunden bieten, das Aldi und Lidl nicht können?“, erzählt er.
Einem Trend zu folgen, war kein Thema. „Vor 25 Jahren hat man noch gar nicht über Nachhaltigkeit gesprochen. Ich bin einfach von mir aus gegangen und dabei habe ich Unglaubliches entdeckt. Jedes Kind weiß doch, dass Kühe Gras fressen. Aber ich habe festgestellt, dass sie in der herkömmlichen Tierhaltung 80% Kraftfutter bekommen, das aus Mais und Weizen besteht – und das wollte ich nicht. Meine Kühe bekommen nichts anderes als Gras, Heu und Wasser.“
Begeisterung statt zuviel Analyse
Weil Guido Leutenegger kein Land hatte, kam er auf die Alpweiden im Tessin, die keiner mehr bewirtschaftet. Auf der Alpen-Südseite sind die klimatischen und topographischen Bedingungen besonders schlecht. „Die Futterqualität dort reicht für die hochgezüchteten Turbo-Kühe gar nicht.“ Anhand von Luftaufnahmen hat Leutenegger geeignete Weiden identifiziert und 25 Gemeinden angeschrieben. Ein Drittel der Gemeinden hat reagiert und so weiden die Hochland-Rinder von Natur konkret heute im Tessin.
„Im Unternehmensbereich ist es völlig verloren gegangen, auf seinen Bauch zu hören. Alles wird so veranalysiert, dass einem die Freude verloren geht. Wenn alles doppelt und dreifach abgesichert wird, kommen ja auch keine tollen Sachen hervor. Natürlich habe ich Misserfolge und manche Sachen klappen nicht. Aber dann probiere ich halt etwas anderes.“
Prinzip 3: Der Intuition und der Freude folgen
„Die Ideen liegen immer auf der Hand, man muss ihnen nur folgen.“ So kann aus einem Problem eine Lösung werden: Vor einigen Jahren ging im Tessin ein Zaun kaputt, die Kühe suchten das Weite. „Das ist ein riesiges unbewohntes Bergtal, da haben wir über Wochen gesucht, bis wir alle beieinander hatten. Daraufhin haben die Kühe einen GPS-Sender bekommen, damit wir sie leichter finden.“ Schmunzelnd erzählt Guido Leutenegger, dass die Zürcher Banker in der Bahnhofstraße in ihrer Pause heute gerne verfolgen, wo „ihre“ Kuh gerade weidet.
Pragmatisch geht Gudio Leutenegger auch an andere Experimente heran: Irgendwann sei ihm klar geworden, dass die Geflügelindustrie vom Nordkapp bis Südafrika in der Hand von genau drei Konzernen ist. Dabei habe er ein mulmiges Gefühl und den Entschluss gefasst, 100 Rasse-Hühner zu kaufen, um unabhängig zu werden von diesen Großkonzernen.
Arbeit als Passion
„Man darf eines nicht vergessen: 75% dieser Geflügel-Bestände haben inzwischen eine Antibiotika-Resistenz und sind von Keimen befallen. Das Geflügelfleisch selbst ist nicht per se von Keimen befallen, das liegt an der Herstellung.“ Seine eigenen Hühner sind frei von antibiotikaresistenten Keimen.
„Ich habe da nicht so unternehmerisch nachgedacht, sondern einfach aus dem Bauch raus gehandelt.“ Das hat ihm bisher Erfolg gebracht. Seine Arbeit macht ihm Spaß und er identifiziert sich voll damit. Deshalb denkt er nichts ans Aufhören: „Selbst wenn ich pensioniert wäre, würde ich das machen – zu mindestens 80% meiner Zeit wäre ich auch dann im Betrieb. Man kann aus seiner Passion einen Lebensberuf machen. Ich habe genau die Firma gegründet, die ich haben wollte. Es ist ein Glück und Privileg, wenn man das kann.“
Prinzip 4: Das Schema F und die Konkurrenz ignorieren
Wenn Guido Leutenegger neue Metzger einstellt, merkt er, wie sich die neuen Mitarbeiter verändern: „Sie sind plötzlich stolz auf ihr Produkt und erklären es den Kunden.“ Meist kommen sie aus der herkömmlichen Schlachterei und müssen lernen. „Wir schlagen die Tiere nicht, auch nicht, wenn es zum Schlachter geht“, sagt Guido Leutenegger. „Die Fleischqualität ist deshalb bei uns besser, das Fleisch riecht anders und schmeckt anders.“
Prinzip 5: Den „Experten“ misstrauen
Jeder hat ihm abgeraten: „Weißt du, wie steil es im Tessin ist? Weißt du überhaupt, wie man mit Kühen umgeht? Mit Heu, Gras und Wasser kann man kein Fleisch produzieren, es braucht eine Ausmast-Phase mit Getreide und so weiter und so fort.“ Unwissenheit sei auch eine Chance. Bauern sagen ihm heute, Leutenegger hätte den Versuch niemals gewagt, wenn er gewusst hätte, was Bauern wissen. Die Chancen und Risiken habe er schon abgewogen und außerdem bis 2003 eine 50%-Stelle in der Stadtverwaltung in Kreuzlingen beibehalten, um sich abzusichern.
Unternehmen orientiert sich an Menschen – nicht umgekehrt
Jeder Gründer-Berater hätte Guido Leutenegger davon abgeraten, das Unternehmen auf drei Standorte zu verteilen: Der größte Betriebsteil ist im Tessin, dort stehen die Kühe. Im Kanton Graubünden werden Logistik und Versand organisiert. Im Thurgau sitzt die Verwaltung. „Auf dem Reißbrett würde man das natürlich niemals so planen.“ Moderne Kommunikation macht es möglich, den Betrieb mit drei Standorten zu führen.
Das Unternehmen orientiert sich an den Menschen, die dort arbeiten. Zufällig hat Guido Leutenegger in Graubünden eine fähige Vertriebs-Frau, die von Anfang an dabei ist. Nur deshalb ist Graubünden Versand-Ort. Im Tessin weiden die Kühe, weil es dort genug Alpweiden gibt, auf denen sie grasen können. Nebenbei sorgen sie für den Landschaftsschutz.
Prinzip 6: Den Mitarbeitern vertrauen
„Viele Chefs glauben, dass sie Mitarbeiter brauchen, weil sie selber nicht genug Zeit haben, eigentlich aber sowieso Alles besser wissen und können. Ich brauche aber Mitarbeiter, die vieles besser können als ich. Zum Beispiel weiß ich überhaupt nicht, wie diese Computersysteme funktionieren.“
Natur konkret ist inzwischen ein Online-Shop, die Ware wird ausschließlich über´s Internet vertrieben. Dabei hatte das Unternehmen 2010 nicht einmal eine Homepage. „Es wäre niemand darauf gekommen, sich als Online-Metzger zu positionieren, aber wir sind ja nichts anderes.“ Entstanden ist die Webseite, weil ein Student unbedingt Fleisch über die Aktie Lotti bekommen wollte, es aber nicht zahlen konnte. Im Austausch bot er an, die Homepage herzustellen.
„Man kann Mitarbeiter nicht belügen“
Von den 15 Mitarbeitern hat jeder solche spezifischen Aufgaben, Arbeit, die für Natur konkret unverzichtbar ist und wo kein anderer reinredet. „Die Mitarbeiter kriegen Alles mit. Deswegen kann man sie nicht belügen oder so tun, als ob man super wäre, wenn man es nicht ist. Bei uns kann man sich nicht wie in einer großen Firma weg ducken, es kommt auf jeden an.“
Prinzip 7: Selbstorganisation und Unterschiede zulassen
„Man muss die Leute so einsetzen, dass sie sich wohl fühlen. Wir sehen uns alle zusammen nur ein Mal im Jahr. Da geht´s um die anstehenden Aufgaben, aber nicht um Konflikte oder um´s Wohlfühlen. Meine Leute arbeiten, wenn es Arbeit gibt und wenn nicht, bleiben sie zuhause.“ In allen drei Betriebsteilen sei die Unternehmenskultur ein wenig anders, es hänge von den Personen ab, die dort das Sagen haben und wird von ihnen geprägt.
„Wir sind überall Pächter und müssen uns immer arrangieren. In fünf Minuten kann schon Alles anders sein, wenn jemand anders andere Entscheidungen fällt. Ich selbst würde nichts Entscheidendes ändern, aber das habe ich gar nicht in der Hand.“
Bislang zieren die Ordner-Rücken im Büro noch das Konterfei von der Kuh Lotti. Aber das wird sich ändern, wenn es auch mehr Hühner und Schweine im Betrieb gibt. Natur konkret soll weiter stark wachsen, diesmal über Partnerschaftsverträge. Zurzeit arbeitet das Unternehmen mit 82 Partnern zusammen, die im Auftrag von Natur konkret Freilandschweine halten.
Die Kuh „Lotti“, die Namensgeberin für die Aktie wurde, lebt übrigens noch: Sie ist inzwischen 23 Jahre alt und hat 17 Kälber geboren. Sie wird ihr Altenteil auf den Tessiner Alpweiden verbringen, ebenso wie der Stier Augustus, den Leutenegger besonders gern hatte. Er durfte eines natürlichen Todes sterben und wurde in einem Kinderbuch verewigt.
Petra-Alexandra Buhl
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