Praxis-Labor Unternehmensdemokratie: Vielleicht gerade jetzt nötiger denn je?

Ein halbes Jahr nach Erscheinen hat sich der Marketing-Staub gelegt. Andreas Zeuchs Buch „Alle Macht für niemand – Aufbruch der Unternehmensdemokraten“ nehme ich am Tag nach den Landtags-Wahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt wieder zur Hand.

Zeuch ist Erziehungswissenschaftler, Musiktherapeut und Unternehmensberater. Sein Verdienst ist, das erste Buch zum Thema Unternehmensdemokratie geschrieben zu haben.

Zeuch fragt: „Wieso macht die Demokratie vor den Toren der Arbeitswelt halt? Für viele ist die Demokratie gut und richtig, sie ist in Verfassungen und Grundgesetzen festgeschrieben. Sie gilt aber plötzlich nicht mehr, sobald man als Arbeitnehmer, egal ob Führungskraft oder Mitarbeiter, die Räume des Arbeitgebers betritt. Dann herrschen Bedingungen, die nur noch bedingt demokratisch sind.“

Aus zwei Gründen befürwortet Zeuch die Unternehmensdemokratie:

  1. Mitarbeiter, die mitbestimmen dürfen, leisten bessere Arbeit, werden flexibler und anpassungsfähiger und stärken so die Innovationskraft in Unternehmen. Das höhere Engagement der Mitarbeiter sei der größte Vorteil angesichts dynamischer Märkte.

Auf 1,3 Billionen Euro schätzt Zeuch den Wert, der von 2001 bis 2013 deutschen Unternehmen verloren gegangen sei – durch mangelnde Motivation der Führungskräfte und Mitarbeiter. Seine Quelle: „Aufaddierte Summen der einzelnen Jahresverluste, die das Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Gallup seit 2009 jährlich in Deutschland errechnet hat.“ Hat jemand ergänzende Zahlen dazu? Der Beleg erscheint kühn. 😉

2. Unternehmen sind Teil unserer Gesellschaft und haben daher auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Je demokratischer das Unternehmen, desto verantwortungsvoller werden die Mitarbeiter. Sie entwickeln sich auch in ihrer Freizeit zu Demokraten, weil sie im Arbeitsleben andere Erfahrungen machen, sagt Zeuch.

Was wäre, wenn Unternehmen ein Praxis-Labor für Demokratie werden?

Schaut man sich die Ergebnisse der drei Landtagswahlen an, wird klar, dass die nächsten Jahre ein Ringen um Lösungen und eine Auseinandersetzung mit Positionen von Andersdenkenden werden – mehr als bisher. Das macht vielen Menschen Angst. Viele haben Angst vor Fremden, Angst vor dem Verlust des eigenen Wohlstands und einige Ängste mehr. Die Debatten werden mit hoher Emotionalität ausgefochten. Manche animiert das zum Rückzug. In sozialen Medien kokettieren viele im ersten Impuls sogar mit dem Auswandern.

Aber:

  • der Demokratie innerlich zu kündigen und sich abzuwenden ist was für Feiglinge
  • Bashing von Andersdenkenden führt zu deren politischen „Märtyrer-Tum“
  • Nicht die Polemik, sondern die Auseinandersetzung ist interessant

Wenn wir uns darüber verständigen, wo wir stehen und welche Werte wir vertreten, darf die Wirtschaft nicht außen vor bleiben. Es geht darum, Demokratie wieder als attraktives Modell zu erarbeiten. Dafür, wie das täglich in Unternehmen gelingen könnte, gibt Zeuch Inspiration.

Seine Vorschläge gehen darüber hinaus, was viele unter Basisdemokratie kennengelernt haben. Kritiker der Unternehmensdemokratie warnen, sie verlangsame Prozesse, weil es zu viel Abstimmungsbedarf gebe, und blockiere Entscheidungen.

Mal abgesehen davon, dass Entschleunigung für viele Organisationen im Moment dringend nötig wäre, um sich zu besinnen: Echte Basisdemokratie hat Zeuch sowieso nur in Start ups gefunden. Mit zehn Mitarbeitern ist diese auch fast problemlos umsetzbar. Anders sieht es aus, wenn Unternehmen 100, 1000 oder 10 000 Mitarbeiter haben.

Zeuch stellt eine Reihe von Möglichkeiten und Instrumenten vor, die in der Unternehmens-Praxis erproben werden können, etwa den Dialog, systemisches Konsensieren, Open Space-Formate.

Für diejenigen, die experimentieren möchten, ist das Buch eine gute Handreichung, weil

  • es die Begriffe klärt, mit denen viele jetzt um sich werfen
  • es zeigt, welche Überwindung es kostet, Demokratie zu verwirklichen
  • Unternehmensdemokratie nicht einfach nur „Spinnerei“ ist
  • Beispiele für Strukturen der Mitarbeiter-Beteiligung veranschaulichen
  • es Informationen dazu liefert, wie Prozesse gestaltet werden können
  • die Idee von Unternehmen als „Demokratie-Labore“ spannend ist

Vielleicht ist es gerade jetzt nötig, „Übungsfelder in Demokratie“ auch in Unternehmen zu schaffen: Um täglich praktisch zu lernen, dass komplexe Herausforderungen nicht durch einfache Antworten verschwinden. Oft sind es mühsame Prozesse des Verhandelns, die eine akzeptable Lösung für möglichst viele Beteiligte hervorbringen. Das braucht Zeit, Geduld und Konsequenz.

Zeuch zeigt Unternehmen, die ihren Weg zur Unternehmensdemokratie gehen. Manche von ihnen haben gerade erst damit angefangen, einige haben etwas mehr Erfahrung und Wagner Solar hat schon wieder damit aufgehört. Er hat keine Systematik für Unternehmensdemokratien entwickelt, sondern lässt den Weg offen, den Unternehmen beschreiten können. Weil die Unterschiede zwischen einzelnen Firmen, Produkten und Prozessen, Unternehmenskulturen und Belegschaften so unterschiedlich sind, verzichtet Zeuch darauf, „best practises“ zu formulieren.

Es werden überdies nicht die globalen Konzerne oder die Riesen der Deutschland AG sein, die das Modell Unternehmensdemokratie adaptieren. Diese Unternehmen haben mit Innovation Schwierigkeiten und nehmen fast nur noch Ideen auf, die andernorts entstanden sind – gerade in den kleineren Einheiten, die eben auch mit Unternehmensdemokratie experimentieren können.

Sehr gut finde ich den ersten Teil, indem Zeuch den Begriff erklärt und „Typen“ von Unternehmensdemokratie identifiziert. Er spricht von schwachen, mäßigen und starken Formen – je nachdem, wie sehr Mitarbeiter mitbestimmen. Als „stark demokratisch“ bezeichnet er beispielsweise Unternehmen, die fortlaufend operative, taktische und strategische Entscheidungen mit ihren Mitarbeitern treffen.

Umso merkwürdiger, dass Zeuch selbst die Begriffe später etwas durcheinander wirft. Die Beispiele finde ich nicht immer überzeugend: Was hat Gesundheitsmanagement bei ThyssenKrupp Rasselstein mit Unternehmensdemokratie zu tun?

Was mir fehlt:

Streng genommen ist es ein Interview-Buch, das formal aber nicht so auftritt. Ergänzende Meinungen von Mitarbeitern, Ex-Mitarbeitern, Gewerkschaften, Kunden etc. fehlen. Deshalb wundert mich, dass es so viele Menschen für „ein journalistisches Buch“ halten. Das ist es nicht, es fehlt an Gegen-Checks. Aber es ist klar, flüssig und verständlich geschrieben. Prozesse stehen im Vordergrund, weniger die institutionellen Strukturen, die oft ein großes Hindernis für Veränderungen sind. Die Meinungen von Betriebs- und Aufsichtsräten dazu wären interessant gewesen.

Was mich stört:

Unter den Beispielen finden sich auch hier „die üblichen Verdächtigen“ wie Haufe umantis und Upstalsboom. Von einem „Aufbruch der Unternehmensdemokraten“ kann keine Rede sein, so lange es es sich nur um ein Dutzend Unternehmen handelt, die Unternehmensdemokratie wagen.

Zeuch beschreibt Kontaktaufnahme und Anreise zu den Unternehmen jeweils ausführlich. Staus, Bahnhofs-Umbauten und seine Pausen-Snacks interessieren mich nicht. Die Schlüsse, die er daraus über seine Interview-Partner und die Unternehmen zieht, überzeugen mich oft nicht. Aus diesem „Reinspüren“ und Interpretieren von Situationen spricht der Musiktherapeut. Zeuch selbst wünscht sich „aufgeschlossene Manager und Unternehmer“ als Leser. Ob das Buch dort ankommt?

  • Eigener Arbeitsprozess

BildNormalerweise lese ich Sach-Bücher ohne größere Lesepausen durch, um nicht den Anschluss zu verlieren. Bei „Alle Macht für niemand – Aufbruch der Unternehmensdemokraten“ habe ich dreimal angesetzt. Seit September 2015 lag das Buch auf meinem Schreibtisch. Je länger es da lag, umso mehr dachte ich, eine Rezension sei nicht mehr nötig.

Vielleicht liegt es daran, dass ich Zeuch während der Lektüre in einer Google Hangout-Diskussion, auf der Next Economy Open und auf dem EnjoyWorkCamp zum Thema Unternehmensdemokratie erlebt habe. Zeuch hat zur Buch-Erscheinung auch in Podcasts, Videos und Blogs soviel Präsenz an den Tag gelegt, dass mir die Lust auf´s Rezensieren verging. Ich hatte das Gefühl, ich wüsste darüber erst einmal genug.

Andererseits habe ich seit Herbst wenige Leute getroffen, die das Buch tatsächlich gelesen haben. Bei allen Diskussionen um Zukunft der Arbeit und der Organisationen, New Work usw. habe ich jetzt manchmal den Verdacht, dass sich da eine Meta-Diskussion entwickelt.

Ganz oft höre ich über die Impulse, die verschiedene Leute geben: „Superspannend, damit muss ich mich mal unbedingt näher beschäftigen“ oder „Das ist total wichtig, dass das mal einer sagt, da muss man dran bleiben“. Dutzende Podcasts, Videos und Blog-Beiträge ersetzen aber oft die Lektüre – so, wie es bei mir auch sechs Monate lang war. Ich fürchte, dass es häufig gar nicht mehr zur Beschäftigung mit den Primär-Quellen kommt, weil schon wieder „die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird.“ Ihnen allen sei gesagt: Es lohnt sich immer noch, das Buch zu lesen. Die Demokratie hat gerade viele Fürsprecher nötig. Zeuch ist einer davon.

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Das Rezensions-Exemplar hat der Murmann-Verlag freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

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