Zukunft der Pflege 1: Warum sich Unternehmen plötzlich um die Angehörigen ihrer Mitarbeiter kümmern müssen

Teil 1 der Serie „Zukunft der Pflege“ – Ökonomisierung

Wir werden in Deutschland künftig in einer Gesellschaft der Alten und sehr Alten leben, soviel ist klar, wenn wir uns die demographische Entwicklung anschauen. Während die Reproduktionsraten nur langsam steigen, hilft der medizinische Fortschritt den Hochbetagten jenseits der 80 Jahre immer länger zu leben. Damit steigt die Zahl der Pflegebedürftigen.

Zwei große Trends beherrschen derzeit die Pflege:

  • Technisierung
  • Ökonomisierung

Die Pflege- und Gesundheitsberufe werden zum Beschäftigungsmotor, „die Pflegeinfrastruktur wird zu einem Standortfaktor“, sagt Prof. Maik Winter, der den Lehrstuhl für Pflegepädagogik an der Hochschule Ravensburg-Weingarten inne hat. Unternehmen sollten sich deshalb auch damit beschäftigen, wie ihre Mitarbeiter pflegebedürftige Angehörige versorgen können.

Körperlich und geistig vital wie nie zuvor

Die Zahlen klingen gut: Die heutigen 70-Jährigen sind auf dem Stand von 65-Jährigen, sagt Prof. Winter. Sie sind körperlich und geistig nie zuvor in der Geschichte so fit gewesen wie heute. Am Gemeinwohl interessiert, voller Engagement und hoher Ansprüche an das eigene Leben und den persönlichen Komfort haben sie allerdings mehr Wünsche und höhere Erwartungen als die Generation davor.

Winter bezeichnet die Vorgänger-Generation als „Dulder“. Viele von ihnen gäben sich noch damit zufrieden, die meiste Zeit in ihrem Pflegebett zu liegen und seien eher passiv. Die „neuen Alten“ dagegen machen das nicht mehr: Sie verlangen eine gute – nein: die beste – Pflege, Freizeit-Angebote und herausragende medizinische Betreuung.

Es kommen also eine Menge Aufgaben auf Pflegedienste, Heime und Krankenhäuser zu, um die Versorgung dieser „neuen Alten“ sicherzustellen und ihren Wünschen gerecht zu werden.

Eins ist dabei sicher: „Die Pflege gibt es gar nicht, sondern allenfalls verschiedene Pflegesektoren, auf die man sich einstellen muss“, sagt Prof. Winter. Die Individualisierung der Gesellschaft macht vor den Senioren nicht halt, daher unterscheiden sich die Pflegebedürftigen im Einzelnen massiv voneinander. Darauf müssen auch die Versorgungseinrichtungen reagieren.

Die Herausforderungen in der Pflege:

  • Geriatrisierung des Systems
  • Generationenwechsel, neues Klientel
  • mehr Migranten, die zu pflegen sind
  • steigende Anforderungen und Ansprüche der Klienten
  • komplexerer Pflegebedarf: chronifizierte Erkrankungen, Hochaltrigkeit, Demenz, Multimorbidität etc.
  • alternde Belegschaften in Heimen und Pflegediensten
  • Schwierigkeiten, Personal zu rekrutieren
  • helfende Berufe haben oft negative Bilder vom Altern
  • sich widersprechende Interessen im komplexen Gesundheitssystem

Dabei verläuft die demographische Entwicklung in Deutschland jedoch sehr unterschiedlich. An manchen Orten ist die Versorgung sehr gut, an anderen desolat. „Man muss jede Region für sich anschauen und daraus Konsequenzen ziehen. Pflege wird regional gemacht und regional nachgefragt“, so Prof. Winter.

Gerade die Krankenhäuser stehen vor einem weiteren großen Umbruch.

Entwicklungen in der akutstationären Pflege:

  • weiterer Kapazitätsabbau geplant
  • gleichzeitig muss hochspezialisierte Versorgung entwickelt werden
  • Patienten und Patientinnen haben zunehmen körperliche und psychische Beschwerden, Bsp. Demenz
  • interdisziplinäre geriatrische Versorgung muss intensiviert werden, da Senioren ein hohes Risiko haben, ins Krankenhaus zu kommen
  • ungleiche Personalentwicklung in der Medizin und in der Pflege
  • Pflege hat innerhalb der Häuser oft „traditionell“ einen geringen Stellenwert

Weil die Vergütung in den Pflegeberufen so gering und der Personalschlüssel so schlecht ist, herrscht schon jetzt ein weit verbreiteter Mangel an Fachkräften in diesem Bereich. (In den weiteren Teilen der Serie gehe ich darauf näher ein.) Hinzu kommt eine massive Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen. Auf Twitter finden Sie unter den Hashtags #PflegeamBoden, #Pflegestreik #PflegeamLimit viele eindrucksvolle und zum Teil sogar beschämende Tweets aus dem Alltag von Pflegenden in Deutschland.

Auf die Missstände weisen viele schon seit Jahren hin. Auf Twitter schreibt eine Pflegekraft, ihr Team habe in diesem Jahr bereits 40 Überlastungsanzeigen geschrieben – passiert sei daraufhin nichts. Manche Pflegekräfte vollziehen deshalb ihren persönlichen #Pflexit und wechseln ihren Beruf.

Schon jetzt ist eines deutlich: Generalistisch ausgebildete Pflegekräfte bevorzugen Krankenhäuser und gehen nicht mehr in die Pflegeheime. Sie sind in den Kliniken laut Prof. Winter weitgehend zufrieden mit ihrem Beruf, kritisieren aber die Arbeitsbedingungen, ihr Gehalt und die schlechte Akzeptanz der pflegerischen Praxis in den Häusern.

Überdies haben die Fachkräfte große Befürchtungen, was ihre eigene Gesundheit betrifft: Ein schlechte Work-Life-Balance, miese Arbeitsbedingungen und unzureichende Pflegequalität aufgrund von Zeit- und Kostendruck machen ihnen zu schaffen. 13% von den Befragten würden deshalb laut Prof. Winter kein zweites Mal eine Berufsausbildung im Gesundheitsbereich machen.

Abhilfe könnten hier neue Ausbildungsprofile schaffen, welche die Pflege insgesamt aufwerten würden – also die vielfach beschriebene „Akademisierung der Pflege”. Sie würde ein höheres Statusempfinden und mehr Selbstbewusstsein bei den Pflegekräften bewirken, erwartet Prof. Winter, aber auch die Kooperation mit anderen Berufsgruppen verbessern, weil die Statusunterschiede damit etwas eingeebnet würden. Nicht zuletzt würde die Pflege dadurch personenzentrierter und besser.

Wenn sich an den Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter nichts ändert, wird sich aber in der Pflege gar nichts bewegen. Das werden die weiteren Teile der Serie zeigen. 😉

Petra-Alexandra Buhl

Siehe Teil 2

Was meinen Sie:

Heißt Fürsorge für Mitarbeiter auch, sich als Unternehmen um die regionale Pflegeinfrastruktur zu kümmern?

Wie vorbereitet sind die Unternehmen in Ihrer Region auf diese Situation?

Greifen Sie ein, wenn Sie überlastete Pflegekräfte erleben? Wenn ja, wie?

2 Gedanken zu „Zukunft der Pflege 1: Warum sich Unternehmen plötzlich um die Angehörigen ihrer Mitarbeiter kümmern müssen

  1. Hallo und danke für diesen Artikel, ich selber beschäftige mich fast täglich mit dem Thema ambulante Pflege, und diese Entwicklungen und zukünftige Trends finde ich sehr interessant (natürlich auch extrem wichtig). Was die richtige Lösung sein wird, oder ob eine optimale Lösung für die Herausforderungen überhaupt gefunden wird, lässt sich erst in der Zukunft zeigen. LG Sebastian

    1. Lieber Sebastian,

      vielen Dank für Ihren Kommentar. Leider ist er erst heute bei mir eingetroffen – Wunderwelt der Technik 😉
      Das Thema Pflege bleibt höchst spannend. Da wünsche ich mir umfangreiche Veränderungen für Pflegebedürftige, Pflegekräfte und Angehörige und steuere gerne meinen Teil dazu bei.

      Herzliche Grüße
      Petra-Alexandra Buhl

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