Teil 2 – Demografie
Nirgends werden die Menschen so alt wie in Baden-Württemberg 😉
Baden-Württemberg gilt als das „Musterländle“ in der demographischen Entwicklung. Frauen werden hier im Durchschnitt 84 Jahre alt, Männer 79. Im Vergleich zu den 1970er Jahren haben beide Geschlechter fast ein ganzes Lebensjahrzehnt hinzugewonnen. Spitzenreiter ist dabei der Bodenseekreis: Hier werden die jetzt geborenen Mädchen rein statistisch 85 Jahre alt, die Jungen 80.
Wer soviel Lebenszeit erwarten darf, muss anders planen, für sich lebensphasengerecht Sinn und Beschäftigung finden. Mit 65 Jahren bleiben diesen Frauen künftig noch 20 Jahre Leben. Wer sich nicht damit begnügen will, die Hände in den Schoß zu legen, sollte sich darauf einstellen und sich überlegen, wie das aussehen könnte.
Alt und chronisch krank = hoher Pflegeaufwand
Älter werden heißt aber häufig, chronisch krank zu sein und manchmal mit mehreren Diagnosen leben zu müssen. Das erschwert mitunter eine Pflege zuhause, aber selbst die Gesundheitseinrichtungen kommen hier an ihre Grenzen.
Prof. Maik Winter von der Hochschule Ravensburg-Weingarten beschreibt, dass gerade diese multimorbiden Patienten in Kliniken und Heimen die am wenigsten beliebten sind. Sie sind Patienten mit einem hohen Pflegeaufwand in einer medizinisch und pflegerisch diffizilen Situation. Sie brauchen unterschiedliche Behandlungen und Medikamente, die sich zum Teil in ihren Wirkungen und Nebenwirkungen zum Schlechten addieren. Patienten reagieren darauf unterschiedlich: Sie sind entweder total sediert oder unruhig und aggressiv – in jedem Fall aber höchst unterschiedlich und pflegeintensiv.
„Die Gerontopsychiatrie hat das schlechteste Image von allen Abteilungen“, sagt Prof. Winter. Das liege häufig auch daran, dass Pflegekräfte im Umgang mit beispielsweise Demenz-Patienten schlecht oder gar nicht geschult und deshalb mit der Pflege-Situation überfordert seien. Die Etats für Weiterbildungen wurden in vielen Häusern in den letzten Jahren deutlich reduziert.
Selbst wenn es dafür ein Budget gibt, müssen die Mitarbeiter aufgrund der Personalknappheit häufig absagen. Eine Pflegedienstleiterin erzählt: „Zum vierten Mal haben wir jetzt kurzfristig eine überfällige und seit langem geplante interne Weiterbildung verschoben. Wir haben laufend einen Dienstplan, der das gar nicht zulässt – es fehlen mir zu viele Leute und ich habe einen zu hohen Krankenstand.“
Die Folge ist, dass sich die Pflegequalität durch die dauerhaft angespannte Personalsituation stetig verschlechtert – und das weiß die Pflegedienstleitung. „Ich würde das wahnsinnig gerne ändern, aber ich kann mir keine Mitarbeiter backen – leider.“ Ein bisschen Galgenhumor, der bleibt. „Ohne den würden wir es gar nicht mehr aushalten, wir arbeiten seit Jahren am Limit“, sagt sie. Sarkasmus und Depersonalisation sind allerdings auch erste Anzeichen für ein Burnout.
Zuhause bleiben, solange es nur irgendwie geht
Kein Wunder verzichten pflegebedürftige Senioren unter diesen Umständen darauf, sich in diesen Häusern einzuquartieren. Zuhause bleiben, so lange es nur irgendwie geht, das ist das Ziel der meisten Hochbetagten. Ambulante Pflege wird daher zunehmend nachgefragt. Allein in den Jahren 2013 bis 2015 entstanden laut Prof. Winter in Deutschland 600 neue Pflegedienste. Im gleichen Zeitraum wurden 76 000 Menschen pflegebedürftig. Die Nachfrage übersteigt in manchen Regionen das Angebot immer noch deutlich.
Regional ist die Situation der Pflegebedürftigen deshalb sehr unterschiedlich. In manchen Gegenden sind sie mit gleichwertigen Leistungen überversorgt, in anderen unterversorgt. Alarmierend: 38% der pflegenden Beschäftigten sind selbst schon über 50 Jahre alt. 55% von ihnen haben noch ein Examen in der Kranken- oder Altenpflege gemacht.
Experten fordern, die Grundpflege auszugliedern und diese Fachkräfte mehr beraten zu lassen, damit teils unnötige Krankenhaus-Aufenthalte für Pflegebedürftige vermieden werden können. Das würde heißen, das einfache Pflege-Tätigkeiten künftig von Angelernten erledigt werden. Es würde bedeuten, dass die älteren Fachkräfte körperlich entlastet werden und – so die Hoffnung – länger arbeitsfähig bleiben, anstatt frühverrentet zu werden.
[Tweet “Konzepte für die Pflegebedürftigen von morgen fehlen: Wie sollen die geburtenstarken Jahrgänge – die Babyboomer – versorgt werden?”]
Nicht nur die ambulante Pflege, auch die teilstationäre Langzeitpflege steht vor einem Umbruch, weil es mehr Pflegebedürftige zu versorgen gibt:
- Pflegeheime sind „Lebensorte der Hochaltrigkeit“: Fast ausschließlich Demenzkranke und Schwerstpflegebedürftige werden dort versorgt
- Pflegeheime haben in der Regel ein sehr schlechtes Image
- Konzepte für die Pflegebedürftigen von morgen fehlen: Wie sollen die geburtenstarken Jahrgänge – die Babyboomer – versorgt werden?
- Die umfangreiche Pflegebedürftigkeit wird nicht gleichwertig vergütet
- Für die Pflegekräfte gibt es wenig Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Technisierung und Organisationskultur
„Krankenhäuser werden sich zu hoch spezialisierten Versorgungshäusern entwickeln“, erwartet Prof. Winter. Digitale Technik, Big Data und Roboter werden dort Einzug halten, um Diagnostik und Behandlung weiter zu verbessern. Der Da Vinci Roboter erlaubt schon jetzt mikroskopisch genaue Eingriffe. Dabei steht der Chirurg gar nicht mehr am Operationstisch, sondern er bedient per Computer vier Roboter-Arme, welche die Operation am Patienten ausführen.
Nur ein Prozent der Examinierten will im Pflegeheim arbeiten
Denkbar, dass die Technik in den nächsten Jahrzehnten eine Fülle von Innovationen in der Pflege hervorbringt. Die betroffenen Berufsgruppen sind darauf mitnichten vorbereitet. In jedem Fall wird es künftig mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit als bisher geben, um die Patienten gut zu versorgen. Ohne den Abbau von Hierarchien und Standesdünkel wird das nicht funktionieren. Führung, Kommunikation und Unternehmenskultur werden sich gravierend ändern müssen, um die gewünschte Zusammenarbeit zu ermöglichen.
Ein weiteres Problem für die Leitungen von Heimen und Krankenhäusern wird sein, ausreichend qualifizierte Mitarbeiter dafür zu finden. Schon jetzt arbeiten in der stationären Pflege 63% Teilzeitkräfte. Von den examinierten Fachkräften gibt in Umfragen lediglich ein Prozent der Abgänger an, in Heimen arbeiten zu wollen. Personalschlüssel und Dienstplan müssen dennoch abgedeckt werden – aber wie? (Darauf gehe ich in weiteren Teilen der Serie ein.)
Petra-Alexandra Buhl
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