Teil 3: Der Fachkräftemangel und seine Folgen
Machen wir uns nichts vor: Unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen in der Pflege sind nur wenige Arbeitgeber für Bewerber wirklich attraktiv. Im Durchschnitt vergehen zurzeit 138 Tage, bis eine freie Stelle in der Altenpflege besetzt werden kann. In der Krankenpflege sind es 110 Tage, sagt Ingrid Jörg, die Leiterin der Klinik Tettnang, auf dem vom Netzwerk Fortbildung veranstalteten Forum „Zukunft der Pflege- und Gesundheitsberufe“ auf Schloss Messkirch.
Als Ursache für den Fachkräftemangel sieht sie
- die demographische Entwicklung
- die geringe Zahl der Menschen, die Pflege als Beruf wählen
- die geringe gesellschaftliche Akzeptanz der Pflege-Berufe
- die Arbeitsbedingungen in der Pflege
Laut Untersuchungen sind die Wünsche und Erwartungen an den Beruf von Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren
- Arbeitsplatzsicherheit
- eigene Ideen einbringen können
- die Möglichkeit, etwas zu tun, was Sinn hat
Interessanterweise deckt sich das genau mit dem Profil der Pflegeberufe – und trotzdem haben sie ein schlechtes Image. Eltern raten ihren Kindern eher von einer Ausbildung zum Altenpfleger ab. Die Arbeitsbedingungen und das Image der Pflegeberufe zu verbessern, scheint dringend geboten.
Es sind einige dicke Bretter zu bohren, bevor es soweit ist, dass Jugendliche freudig einen Pflegeberuf wählen und die Lücke an Fachkräften zu stopfen. Hier sind die Arbeitgeber gefragt. Als Lösungsansätze zählt Klinikchefin Ingrid Jörg auf:
- die Anpassung der Organisationen
- die persönliche “Anpassung des Einzelnen an die Organisation”
- Personalgewinnung
- Personalbindung
Es gelte, „die richtigen Führungskräfte“ und „den passenden Platz für den jeweiligen Mitarbeiter“ zu finden. Wichtig sei, die Karriere der einzelnen Mitarbeiter zu fördern und deren Arbeitszufriedenheit zu steigern, sagt Ingrid Jörg. Dies erreiche man zum Beispiel durch eine effiziente Prozessstruktur, Ausfallkonzepte und neue Arbeitszeitmodelle. Notwendig sei überdies, eine Identität zu schaffen durch gemeinsame Aktionen und durch Mitsprache, etwa in Arbeitsgruppen.
Das klingt “technisch” und linear – als könnte man Menschen einfach so in eine bestimmte Richtung steuern. Auf diesen Irrglauben treffe ich in Krankenhäusern und Heimen häufig. Neu sind diese “Steuerungs-Rezepte” nicht und wenn sie nicht mit einer grundlegenden Organisationsentwicklung und einem Wandel in der Unternehmenskultur verbunden werden, richten sie nichts aus. Das ist zumindest meine momentane Beobachtung 😉
Im Teil 4 dieser Serie gehe ich auf den nötigen Wandel der Unternehmenskultur ein, ohne den die aktuellen Probleme nicht zu bewältigen sind.
Eine viel diskutierte Frage zum Abschluss dieses Artikels: Ist neue Technik eine Lösung für die anstehenden Probleme?
“Jein oder vielleicht” lautet die derzeitige Antwort. Zu unterscheiden sind zwei Haupt-Strömungen: Technik, die direkt in der Pflege zum Einsatz kommt und Technik, die den Pflegebedürftigen zu mehr Lebensqualität und Selbstständigkeit verhilft.
- Technik mit direktem Pflegebezug
Zum Beispiel: Telecare, E-Health, Pflege 4.0, digitalisierte Dokumentationssysteme, zahlreiche Modellprojekte
Dadurch werden sich die Arbeits-, Kommunikations- und Entscheidungsprozesse in den Kliniken, Heimen und ambulanten Pflegediensten sehr verändern. An die Kompetenz der Pflegekräfte stellen sich dadurch eine Fülle neuer Anforderungen.
2. Technik zur Unterstützung des Lebens im Alter
Zum Beispiel: Technische Infrastrukturen wie Sensoren, Kommunikationseinrichtungen, Dienstleistungen, Sicherheit, Unterstützung im Haushalt, Kommunikation, kognitive Aktivierung
Ziel ist jeweils, die Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen zu erhalten und ihnen zu helfen, altersbedingte Einschränkungen zu kompensieren. Fachleute müssen Pflegekräfte beraten, anleiten und schulen, damit wiederum die Pflegebedürftigen das Angebot nach Anleitung verstehen und nutzen können.
Prof. Maik Winter von der Hochschule Ravensburg-Weingarten verweist darauf, dass „Pflege und Technik noch in einem deutlichen Spannungsverhältnis stehen und der Einsatz von neuen Technologien zu einer Reihe von weiterführenden ethischen Fragestellungen für die Pflege führt.“
Ungeklärt sind noch die Auswirkungen auf das individuelle Pflegeverständnis angesichts des Einsatzes von Technik, aber auch die Funktion der Technik. Was passiert, wenn die Maschine Fehler macht? Sollen Pflegekräfte künftig diese Technik selbst warten oder müssen sie stärker mit Technikern zusammenarbeiten? Was bedeutet es, wenn einzelne Berufsgruppen ausschließlich für die Bedienung der Technik ausgebildet werden, von der Arbeit am Menschen aber nichts mehr lernen?
Die Konsequenzen vom Technikeinsatz für künftige Pflegebedürftige werden zurzeit noch kritisch beäugt. Allerdings sind die 50-Jährigen heute mit digitalen Techniken in aller Regel sehr vertraut. Sie werden vermutlich weniger Ängste als ihre Eltern haben, Technik in ihren Senioren-Alltag zu integrieren.
Konfliktpotenziale:
- Störanfälligkeit der Technik
- Mehrarbeit durch Einführung, Bedienung und Wartung der Geräte
- mögliche Gefahren durch die Technik für die zu Pflegenden
- vielfältige Kontrollmöglichkeiten
- Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (wer bekommt den Zugriff auf die Daten und welche Konsequenzen hat das? Kostenträger, Pflegende, Angehörige?
- Wer profitiert von den Effekten des Technikeinsatzes? Kommt die Zeitersparnis durch Technik den zu Pflegenden zugute?
- Technikeinsatz führt zu neuen Bedarfen
- möglicherweise weiterer Anstieg der empfundenen Belastung für die Pflegekräfte durch die Einführung neuer Technologien
Bislang sei das Verhältnis der Pflege zur Technik noch stark ambivalent, sagt Prof. Winter. Technikinduzierte Innovationen könnten im Alter Effekte erzielen, die von den Pflegekräften eher als Bedrohung oder Belastung erlebt werden. In der bisherigen Ausbildung spielten überdies innovative Technologien bislang kaum eine Rolle – mit Ausnahme des Hausnotrufes oder der digitalisierten Dokumentation. Das bedeutet, die meisten Pflegekräfte können mit der neuen Technik noch gar nicht richtig umgehen und werden selbst zur Fehlerquelle.
Die bisher in der Serie geschilderten Probleme müssen laut Prof. Winter Konsequenzen für eine neue Pflegebildung haben:
- systematischer, durchlässiger Pflegebildungsplan
- Unterstützungsangebote für bestimmte Gruppen
- Gewinnung neuer Gruppen für die Pflege
- Studiengänge können Fort- und Weiterbildung in der Pflege nicht ersetzen
- Für die Pflegebildung müssen Lehrer und Lehrerinnen entwickelt werden (auch hier droht ein Mangel an Fachkräften)
- die Rahmenbedingungen in der Pflege müssen deutlich verbessert werden, damit nicht noch mehr Fachkräfte aus ihrem Beruf aussteigen
Petra-Alexandra Buhl
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