Schlagwort-Archive: Pflege

Zukunft der Pflege 4: Buurtzorg – oder wie Menschlichkeit die Bürokratie besiegt

Teil 4 der Serie: Wie der Unternehmenswandel gelingt

Ein aus Holz gezimmerter Kiosk steht vor dem Tagungshaus St. Arbogast in Götzis/ Vorarlberg. Ich bin zum ersten Mal hier und frage, ob ich etwas zu Essen bekommen kann. Kurze Pause. Dann lächelt Eugen Fulterer und sagt: „Ein Butterbrot, das geht. Mit Schnittlauch, Petersilie oder Basilikum? Salz oder Pfeffer?“ Mit Allem, antworte ich, und nein, bitte kein Schnaps.

Diese merkwürdig leichte Gelassenheit und Fröhlichkeit. Nein, das ist kein gewöhnlicher Verkaufsstand, sondern ein Wanderkiosk mit „Genuss Artikel & Nachbarschaft zum Verweilen“, eines der Projekte des Architekten Martin Mackowitz aus Feldkirch. Und Eugen Fulterer ist Künstler, kein Verkäufer. Trotzdem schmiert er passable Butterbrote, auch das „Scherzl“ – Wienerisch für Brotanschnitt 😉 – schmeckt. St. Arbogast ist ein guter Ort für gelingende, humorvolle Irritation.

„open mind, open heart, open will“

Der freundliche Herr, der sich mit seinem Sohn an meinen Tisch gesellt, ist Dr. Anton Gunzinger aus Winterthur, Unternehmer und Professor an der ETH Zürich. Mit seinem revolutionären Supercomputer hat er die IT-Welt in den 90er Jahren überrascht. Geehrt mit verschiedensten Auszeichnungen hat ihn das TIME Magazin zu den 100 Top-Leadern des 21. Jahrhunderts erkoren. Mit gut 90 Mitarbeitern tüftelt er in Zürich an innovativen Projekten und ist international tätig.

Jetzt diskutieren wir über die desolate Situation der Pflege in Deutschland. Der Mann, der sich mit Klimawandel, Nachhaltigkeit und IT beschäftigt, hat dafür ein offenes Ohr und fragt interessiert nach. „Die dreifache Offenheit von open mind, open heart, open will“, die Josef Kittinger, der ehemalige Leiter des Tagungshauses, später in seiner Begrüßungsrede beschreibt, ist schon lange davor erlebbar.

„Ich mag Menschen, die unmögliche Dinge tun“

St. Arbogast überrascht, selbst in den kleinen Dingen – und so soll es auch sein an diesen „Tagen der Utopie“, die sich den „Entwürfen für eine gute Zukunft“ verschreiben. Was liegt da näher, als Jos de Blok einzuladen, den Gründer der holländischen Bezirks-Krankenversorgung Buurtzorg? Die Idee und den Wunsch haben viele, doch dass Jos de Blok tatsächlich kommt – auch das überrascht. Er wird nach China und in die Ukraine eingeladen, könnte jeden Tag woanders referieren. Überall auf der Welt wollen Menschen mehr über sein Erfolgsmodell erfahren. Entschieden hat er sich jedoch heute für St. Arbogast, denn: „Ich mag Menschen, die unmögliche Dinge tun.“ Zukunft der Pflege 4: Buurtzorg – oder wie Menschlichkeit die Bürokratie besiegt weiterlesen

Zukunft der Pflege 3: Übernimmt Kollege Roboter die ungeliebten Jobs in den Altenheimen?

Teil 3: Der Fachkräftemangel und seine Folgen

Machen wir uns nichts vor: Unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen in der Pflege sind nur wenige Arbeitgeber für Bewerber wirklich attraktiv. Im Durchschnitt vergehen zurzeit 138 Tage, bis eine freie Stelle in der Altenpflege besetzt werden kann. In der Krankenpflege sind es 110 Tage, sagt Ingrid Jörg, die Leiterin der Klinik Tettnang, auf dem vom Netzwerk Fortbildung veranstalteten Forum „Zukunft der Pflege- und Gesundheitsberufe“ auf Schloss Messkirch.

Als Ursache für den Fachkräftemangel sieht sie

  • die demographische Entwicklung
  • die geringe Zahl der Menschen, die Pflege als Beruf wählen
  • die geringe gesellschaftliche Akzeptanz der Pflege-Berufe
  • die Arbeitsbedingungen in der Pflege

Laut Untersuchungen sind die Wünsche und Erwartungen an den Beruf von Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren

  • Arbeitsplatzsicherheit
  • eigene Ideen einbringen können
  • die Möglichkeit, etwas zu tun, was Sinn hat

Interessanterweise deckt sich das genau mit dem Profil der Pflegeberufe – und trotzdem haben sie ein schlechtes Image. Eltern raten ihren Kindern eher von einer Ausbildung zum Altenpfleger ab. Die Arbeitsbedingungen und das Image der Pflegeberufe zu verbessern, scheint dringend geboten. Zukunft der Pflege 3: Übernimmt Kollege Roboter die ungeliebten Jobs in den Altenheimen? weiterlesen

Zukunft der Pflege 2: Babyboomer werden ihre Ansprüche herunterschrauben müssen

Teil 2 – Demografie

Nirgends werden die Menschen so alt wie in Baden-Württemberg 😉

Baden-Württemberg gilt als das „Musterländle“ in der demographischen Entwicklung. Frauen werden hier im Durchschnitt 84 Jahre alt, Männer 79. Im Vergleich zu den 1970er Jahren haben beide Geschlechter fast ein ganzes Lebensjahrzehnt hinzugewonnen. Spitzenreiter ist dabei der Bodenseekreis: Hier werden die jetzt geborenen Mädchen rein statistisch 85 Jahre alt, die Jungen 80.

Wer soviel Lebenszeit erwarten darf, muss anders planen, für sich lebensphasengerecht Sinn und Beschäftigung finden. Mit 65 Jahren bleiben diesen Frauen künftig noch 20 Jahre Leben. Wer sich nicht damit begnügen will, die Hände in den Schoß zu legen, sollte sich darauf einstellen und sich überlegen, wie das aussehen könnte.

Alt und chronisch krank = hoher Pflegeaufwand

Älter werden heißt aber häufig, chronisch krank zu sein und manchmal mit mehreren Diagnosen leben zu müssen. Das erschwert mitunter eine Pflege zuhause, aber selbst die Gesundheitseinrichtungen kommen hier an ihre Grenzen.

Prof. Maik Winter von der Hochschule Ravensburg-Weingarten beschreibt, dass gerade diese multimorbiden Patienten in Kliniken und Heimen die am wenigsten beliebten sind. Sie sind Patienten mit einem hohen Pflegeaufwand in einer medizinisch und pflegerisch diffizilen Situation. Sie brauchen unterschiedliche Behandlungen und Medikamente, die sich zum Teil in ihren Wirkungen und Nebenwirkungen zum Schlechten addieren. Patienten reagieren darauf unterschiedlich: Sie sind entweder total sediert oder unruhig und aggressiv – in jedem Fall aber höchst unterschiedlich und pflegeintensiv. Zukunft der Pflege 2: Babyboomer werden ihre Ansprüche herunterschrauben müssen weiterlesen

„Demenz ist keine Krankheit: Demenzkranke sind die Flüchtlinge unserer Gesellschaft“


Bild 4

„Demenz beschert der Antwort-Gesellschaft etwas, das sie dringend nötig hat, nämlich dass es nicht auf Alles eine Antwort gibt“, sagt Prof. Dr. Reimer Gronemeyer. Beim 3. Demenzkongress in St. Gallen hielt der streitbare Theologe und Soziologe aus Gießen einen amüsanten Vortrag, der viele vermeintliche Wahrheiten über Demenz über den Haufen warf.

Demenzkranke und ihre Angehörigen, Pfleger, Betreuer und Ärzte spricht der Provokateur Gronemeyer an, wenn er behauptet: „Demenz ist keine Krankheit“. Aus der Alterserscheinung eine Krankheit zu machen, erlaube es jedoch, sie in die medizinisch-pflegerische Ecke abzuschieben. Dann sei Demenz eine Sache der Ärzte und Pflegekräfte, um die sich die Gesellschaft nicht weiter kümmern müsse. „Demenz ist keine Krankheit: Demenzkranke sind die Flüchtlinge unserer Gesellschaft“ weiterlesen